Albert Schweitzer hat einmal gesagt, das einzig Wichtige im Leben seien die Spuren von Liebe, die wir hinterlassen, wenn wir gehen.

Ein Mann hat in Schleswig-Holstein so tiefe Spuren hinterlassen, dass die Nachfahren seiner Leibeigenen sogar noch fast 250 Jahre nach seinem Tod Blumen zu seiner Gruft bringen. Und dafür über 100 Kilometer weit von der Nordsee zu dem kleinen Dorf Flemhude in die Nähe von Kiel fahren.



Ihr Ziel ist die mittelalterliche Feldsteinkirche St.-Georg-und-Mauritius. Nominell eine Dorfkirche, tatsächlich aber ein ganz besonderer Ort:

Während das pittoreske Dorf Flemhude mit seinen schönen, alten Häusern und seiner malerischen Lage an den Resten des alten Eiderlaufs noch nicht einmal einen eigenen Wikipedia-Eintrag hat, überrascht das über 700 Jahre alte Gemäuer mit einer prall gefüllten eigenen Seite. Diese Kirche hat Charakter und fordert Respekt.



Sie duldet zwei angebaute Backsteinhäuschen an ihren Flanken. Aber mit dem dritten und kleinsten an ihrer Kopfseite im Osten ist sie verwachsen.

Dass die alte Kirche heute ihre wehrhaft-schönes Mauerwerk seit über 700 Jahren fast unverändert gen Himmel reckt, hat sie entscheidend einem Mann zu verdanken, der sie nach Verwüstung durch Soldaten, schwerem Sturmschaden und sehr vielen darauffolgenden Jahrzehnten des Verfalls vor über 250 Jahren von Grund auf sorgfältig renovieren ließ.



Er schenkte ihr darüber hinaus nicht nur ein solides Kupferdach - an Stelle der vorher verwendeten Holzschindeln -, sondern auch den wunderschönen, filigranen Glockenreiter. Beides von auffallend hoher Qualität, ist das kleine Türmchen aber noch mehr:

Von einem der herausragendsten Ingenieure seiner Zeit entworfen, dem Baumeister des Hamburger Michels, Ernst Georg Sonnin, diente es niemals einem praktischen Zweck. Sein Daseinssinn war und ist, durch auffallende, in Erinnerung bleibende Schönheit zu erfreuen. Der Marmorsarg seines Auftraggebers steht in dem hutzligen Hexenhäuschen an der Kopfseite der Kirche.



Der Mann war ein sehr reicher, sehr groer Landbesitzer in Schleswig-Holstein. Als außergewöhnlich erfolgreicher Bankier und Kaufmann eigentlich dazu prädestiniert, ein Soziopath und Menschenausbeuter zu sein, war dieser Mann anders:

Aus eigener Kraft machte der uneheliche Sohn eines dänischen Grafen Karriere und wurde zum mehrfach ausgezeichneten und geadelten Ratsherrn des dänischen Königs. Er baute Deiche so auffallend klug und erfolgreich, dass ein vorbeireisender Mathematiker sein Werk bewundernd in seinen Schriften vermerkte und Theodor Storm ihn als Vorbild und Inspiration für seinen Deichgrafen Hauke Haien im Schimmelreiter nahm.



Ein Menschenfreund, dessen Felder, Güter und innovative Milchwirtschaften die ertragreichsten waren, weil er seine Mitarbeiter persönlich aussuchte, sie wertschätze, gut behandelte und erfolgreiche neue Bewirtschaftsungsmethoden einführte.

Aber der Name des Besitzers der Güter Quarnbek, Emkendorf, Rathmannsdorf und Warleberg war so ein Zungenbrecher, dass ihn in Schleswig–Holstein keiner aussprechen konnte.



Aus Jean Henri Desmercières machten die Schleswig-Holsteiner der Einfachheit halber Johann Hinrich Mercy. Was ihrer Verehrung für den Mann keinen Abbruch tat: Fast 100 Kinder wurden ihm zum Dank auf den Namen Johann Heinrich getauft. Und das sind nur die, von denen man weiß, weil er bei ihnen offiziell als Pate eingetragen war.

Doch dann geriet sein schwieriger Name in Vergessenheit. Seine Gruft verfiel immer mehr und wurde sogar als Abstellkammer benutzt. Bis eine zierliche Dame, die Chronistin von Quarnbek, Gerlind Lind, wissen wollte, wer dieser Mann war, dem die Leute Blumen brachten.



Und so begann die Restaurierung des Wissens und des Bewusstseins um den Mann, der explizit in sein Testament schrieb, dass seine hochwohlgeborenen Nachfolger auf den Rat seiner erfahrenen Leibeigenen hören und ihnen in schlechten Jahren im Zweifel ihre Schuld mildern oder ganz erlassen sollten, um sie nicht in existentielle Not zu bringen.

Gerlind Lind's Engagment für die Geschichte der Gruft ist es auch zu verdanken, dass das alte Mauerwerk in Stand gesetzt wurde und eine Bronzetafel heute an den Urvater der sechs nordfriesischen Reußenköge erinnert.



Doch warum lässt sich ein dänischer Adliger, geboren in Paris, gestorben in Kopenhagen, ein Weißer Ritter des Dannebrogordens und Träger der höchsten, exklusivsten und ältesten dänischen Auszeichnung, des Elefantenordens, in einer kleinen Dorfkirche in Schleswig-Holstein beisetzen?

Um die Antwort zu finden, besorgte Gerlind Lind aus dem Landesarchiv in Schleswig eine Kopie seines Testaments und ließ es von einem Historiker übersetzen. Doch dort stehen nur vier karge Zeilen ganz am Schluss. Das Geheimnis von Flemhude bleibt, behütet von der stolzen alten Kirche.